Arthur Braun: Ein Magier?

7.: Fortschritt und Schule

Als wir zurück ins Krankenhaus kamen, fiel mir sofort ein Plakat auf: "Antiker Filmabend". Diese Aufschrift erinnerte mich auch an etwas, das Sie als Leser am Ende des 20. Jahrhunderts interessieren könnte: Der Dauerbrenner bei diesen Abenden sind neben anderen Filmen (Sie kennen am ehesten "Forrest Gump", "Jurassic Park" oder "Zurück in die Zukunft") die verschiedenen Folgen von "Star Trek" beziehungsweise "Raumschiff Enterprise". Auch Sie werden bei meinen Erzählungen oft wie Mr. Spock "faszinierend" meinen, doch es ist immer wieder genauso traurig zu bemerken, daß der Geschichtelehrer recht hatte, als er uns erzählte, daß der rasante Fortschritt im 20. Jahrhundert einige Jahre nach der Jahrtausendwende langsam verebbte und sich bisher relativ wenig veränderte. Sie können daher vieles in meiner Welt mit Ihrer vergleichen. Filme wie eben "Star Trek" oder auch "Zurück in die Zukunft" erhofften und zeigen auch heute etwas anderes - in ihrer Entstehungszeit war das ja auch die Volksmeinung.
In der Zeit der "Besinnung", wie unsere Geschichtsforscher diesen Zeitraum, in dem sich der zu rasante Fortschritt des 20. Jahrhunderts wieder verlangsamte, nannten, passierte aber auch etwas anderes: Da die Welt zu unmenschlich, das heißt zu gefühllos, geworden war, besinnte man sich auf alte, innere Werte des Menschen zurück. Einige entdeckten ungeahnte Kräfte in sich, denen sie nachgingen und sie erforschten, und plötzlich gab es Magier! Ein großer Teil der Bevölkerung glaubt heute noch nicht an Magie, doch diese Fähigkeiten werden trotzdem immer mehr auch allgemein akzeptiert. Es gibt sogar Schulen, die auch Magie-Ausbildung anbieten, doch sie verstecken sich hinter anderen Namen, zum Beispiel "Schule für besondere mentale Fähigkeiten". Dies alles war mir in Erinnerung geblieben, sogar, daß Magier strengen moralischen Vorschriften unterliegen, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, ob ich selbst Magier war oder nicht, und mir fiel es auch nicht ein, als schon so viele Zeichen in diese Richtung wiesen. Diese Gedanken beschäftigten mich, bis ich zurück in meinem Zimmer einschlief.
Am nächsten Tag wollte ich weiter zu Hause und in der Schule in Stadlkirchen nachforschen. Doch zuerst war die Gehirnanalyse von Dr. Mayer fällig. Er selbst, aber besonders auch seine Assistenten, waren begeistert. "Das ist fast unmöglich. Wenn das nicht Sie wären, würde ich dieses Ergebnis ja selbst nicht glauben. Damit kann ich Sie schon morgen entlassen." "Danke, sehr nett. Und heute?" "Sie können ausbleiben, solange Sie wollen, doch kommen Sie bitte am Abend zurück. Und um 12 Uhr gibt es ein gutes Mittagessen, wie Sie wissen." "Ja, danke. Ich werde jetzt kurz zur Schule in Stadlkirchen fahren, und am Nachmittag nochmals zu Hause nachsehen." "Sehr gut. Bis bald, Herr Braun!" Ich fuhr wieder mit Linie 2b auf dem Resthof und dann mit einer der neuen "Außenlinien" der städtischen Busse direkt nach Stadlkirchen. Die "Schule für besondere (mentale) Fähigkeiten" war in einem beeindruckenden Gebäude untergebracht: Es paßte perfekt zur alten Ortschaft und wirkte mindestens 200 Jahre alt, obwohl es erst vor ein paar Jahren erbaut worden war, um auch in Oberösterreich eine solche Schule zu haben. Ich hatte das Glück, daß ich hier in Steyr wohnte und nicht, wie manche andere, 100 Kilometer bis zu diesem Ort fahren mußte, um in eine derartige Schule zu gehen.
Doch heute hatte ich ein anderes Problem: Wie sollte ich an diesem Tag, am Montag, dem 23. 6. 2110, drei Tage nach dem Schulschluß, noch in das Gebäude kommen? Ich ging zur Tür und sah mich nach einer Klingel um, doch diese konnte ich nirgends finden. Also hatte ich nur noch eine Chance - den einfachsten Weg: Ich drückte die Klinke hinunter - und die Tür ging auf! Ich hörte entfernt die Stimme des Schulwarts, die ich sofort ins Gedächtnis rufen konnte. Sollte das wirklich eine magische Sperre sein, war sie anscheinend so geschickt gemacht, daß manche anscheinend unwichtige Details weniger blockiert wurden als andere wichtigere Fakten, die mir verraten könnten, ob ich ein Magier war oder nicht. Ich schaffte es jedenfalls, unbemerkt bis vor die Direktorenkanzlei zu kommen - gottseidank wußte ich ja, wo ich sie finden konnte. Dort, das wußte ich ebenfalls (woher ist mir aber unklar), war auch das Archiv mit allen Schülernamen untergebracht. Ich legte mein Ohr an die Tür: Stille. Hoffentlich war niemand in diesem Raum. Doch wer sollte auch an einem Ferientag in der Kanzlei sein? Also drückte ich die Türklinke. Die Tür war nicht zugesperrt. Ich öffnete sie langsam und atmete auf: Niemand im Raum.
Nachdem ich die Tür wieder leise geschlossen hatte, ging ich zum Schreibtisch des Direktors. Dort lag ein geheimer Brief des Landeskrankenhauses Steyr, natürlich bereits geöffnet. Überrascht war ich jedoch vom Betreff: "Ihr ehemaliger Schüler Arthur Braun". Ich nahm den Brief und sah ihn genauer an: Unterzeichnet war er von Dr. Alois Mayer und dem Leiter des Krankenhauses, adressiert an Direktor Wilhelm Neuhauser persönlich. Darin konnte ich auch folgende Zeilen lesen: "Wie Sie bereits wissen, wurde Ihr ehemaliger Schüler Arthur Braun am Montag, dem 24. 6. 2109, in unsere Anstalt mit schwerem Koma eingeliefert, nachdem er unfern Ihrer Schule von Ihrer Tochter aufgefunden worden war." Weiters war noch mein Gesundheitszustand kurz beschrieben, das heißt, daß ich noch im Koma läge und daß mein Gedächtnis beträchtlich gehemmt wäre. Allerdings war da auch noch zu lesen, daß Dr. Mayer den Direktor mit dessen Tochter Simone Neuhauser am Montag, dem 23. 6. 2110, im Krankenhaus zu einem Privatgespräch erwartete. "Das ist ja heute!", entfuhr es mir (natürlich nur im Kopf, denn ich mußte absolut ruhig sein, um nicht entdeckt zu werden). Interessant, interessant. Direktor Neuhauser würde also an diesem Tag erfahren, daß ich schon aufgewacht war. Mich interessierte aber noch viel mehr, daß ich in der Nähe der Schule gefunden worden war. Und mich interessierten meine schulischen Leistungen. Daher ging ich zum Archivschrank und öffnete die Lade mit der Aufschrift "Abschluß 2109".
Ich durchsuchte die dortigen Computerausdrucke gründlich, doch erkannte ein Problem: Auf der Liste aller Schüler aus diesem Jahrgang war zwar mein Name verzeichnet, aber unter den genauen Auflistungen beziehungsweise Daten auf eigenen Zetteln konnte ich meinen einfach nicht finden. Jemand mußte ihn herausgenommen haben. Und die Diskette aus der Lade zu nehmen und sie mit dem Computer des Direktors anzusehen, schien mir zu riskant - es konnte ja jederzeit jemand hierher kommen. Ich schloß die Lade und ging niedergeschlagen zurück zum Schreibtisch. Plötzlich fiel mir dort auf, daß unter dem Brief noch ein Zettel lag. Das war meine Akte! Allerdings war sie mit dem Hinweis "Besondere Bemerkungen!" durchgestrichen. Weiters war vermerkt: "Wird am 23. 6. 2110 erneuert!" Jedenfalls konnte ich dort lesen, daß ich überall ausgezeichnet abgeschlossen hatte und meine "ME-Werte" - was auch immer das war - überall als "Maximum" oder unmeßbar hoch" bezeichnet wurden. Ich schloß aus allen diesen Dingen, daß ich ein besonderer Schüler gewesen sein mußte. Ich konnte mich jetzt - zwar nur sehr schwer und dunkel, aber doch - an diese Ergebnisse grob erinnern. Diese Gedanken waren also sehr versperrt, dachte ich.
Trotzdem wollte ich jetzt diesen Ort ständiger Gefahr möglichst bald wieder verlassen. Ich schaffte es auch, mich genau so unbemerkt herauszuschleichen, wie ich hineingekommen war. Vor dem Schultor atmete ich auf. Jetzt bestand keine Gefahr mehr, unerwünscht entdeckt zu werden. Und meine Informationen hatte ich auch. Also fuhr ich zum Mittagessen zurück ins Krankenhaus. Während ich dabei noch einmal über meine Auffindung nachdachte, fiel mir ein, daß es hinter der Schule einen Brunnen gab, und ich hatte - keine Ahnung, woher - die Gewißheit, daß er etwas damit zu tun hatte. Ihn wollte ich mir am Abend nochmals ansehen. Während des ganzen Mittagessens versuchte ich, mich an mehr zu erinnern, doch ich bekam aus diesem Gehirn einfach nicht mehr heraus.

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© Robert Kaiser, 1997