Arthur Braun: Ein Magier?

9.: Der Brunnen

Es war schon dunkel, als ich nach Stadlkirchen kam. Ich ging die Straße hinunter, die zur Kirche und dann auch zur Schule führte. Im Dunkel sah das kleine Kirchlein dieses Ortes noch besser aus. Irgendwie wirkte der ganze Ort jetzt romantisch, aber auch ein bißchen gefährlich. Was würde noch alles passieren? Ich mußte wegen der Romantik kurz an das Mädchengesicht denken, das ich seit dem Aufwachen im Kopf hatte. Vor mir lag jetzt die Hauptstraße des Ortes: am Beginn kleine Häuser auf beiden Seiten, dann links die eben erwähnte kleine Kirche, dahinter die Schule, dann wieder kleinere Häuser, dazwischen ein paar Bauernhöfe. Ich ging - automatisch, ohne ihn wirklich zu kennen (oder doch?) - zu dem Weg, der links von der Straße wegging und hinter der Kirche vorbeiführte, also wahrscheinlich auch hinter der Schule. Von dort kamen gerade zwei unerkennbare, dunkle Gestalten auf die Straße heraus. Ich wußte nicht mehr, ob ich weitergehen sollte. Trotzdem ging ich weiterhin auf den Weg zu, mit Blick auf die zwei Personen. Als sie schließlich nur ein paar Meter entfernt vorübergingen, erkannte ich - unter großem Aufatmen - daß es nur zwei Männer im Anzug waren, die anscheinend einen Spaziergang machten. Sie waren gerade in ein sehr angeregtes Gespräch vertieft, sodaß sie mich nicht beachteten. Umso erstaunter war ich über die Geprächsfetzen, die ich verstehen konnte: Es wurde anscheinend über Magie gesprochen, auch den Namen "Arthur" konnte ich verstehen. Advancierte ich zum Gesprächsthema Nr.1? Ganz egal, ich ging jedenfalls weiter zum Weg.
Es wurde immer dunkler. Der Weg führte in einem Bogen von der Straße weg. Hinter Kirche und Schule waren auf der rechten Seite des Weges Schrebergärten, die man leicht überblicken konnte, großteils standen keine Hecken, und die existierenden waren noch relativ niedrig. Ich schätzte daher, daß die Gärten erst 4-5 Jahre alt waren. Links vom Weg war eine durchgehende, schon höhere Hecke, was sich dahinter befand, konnte ich nicht feststellen. Ich ging langsam den Weg entlang. Eine kühle, feuchte Windböe streifte mich. Fast unheimlich war es hier. Und obwohl ich diesen Ort nicht wirklich kannte, fühlte ich mich absolut sicher, daß ich hier richtig war. Es war wirklich eigenartig, es war, als ob mich dort etwas anzog. Ich kam immer mehr hinter die Schule und damit auch näher ans Ziel. Ich schaute nach rechts zur Schule hin auf die große Fensterfläche. Auf den ersten Blick dachte ich, dort würde jemand stehen und mir zuwinken, doch als ich genauer hinsah, konnte ich nichts dergleichen erkennen.
Ich senkte meinen Blick und da sah ich ihn: Mitten in einem Schrebergarten erhob sich ein Kranz aus Steinen, den ich sofort als Brunnen identifizierte. Nach einem vorsichtigen Blick nach links und rechts stieg ich über den niedrigen Holzzaun in den Garten. Dann ging ich langsam und vorsichtig auf den Brunnen zu. Als ich endlich davor stand, konnte ich erkennen, daß eine kleine Stahlleiter im leeren Brunnen nach unten führte. Ich warf einen Stein in den Brunnen, um zu überprüfen, ob er wirklich leer war. Der Stein schlug dumpf am Grund auf. Kein Wasser. Ich konnte dem Geheimnis des Brunnens wortwörtlich auf den Grund gehen. Sprosse für Sprosse stieg ich in das schwarze Loch, bis ich ungefähr drei Meter unter der Erde festen Boden fand. Um mich war es nur mehr schwarz, nur von oben schien der Himmel noch leicht hell herab. Vorsichtig suchte ich die Wand rundherum nach Besonderheiten ab. Plötzlich fühlte ich einen Metallteil. "Die Tür!" schoß es mir durch den Kopf, ohne daß ich nachdenken konnte. Wie ferngesteuert öffnete ich die Stahltür, die außen fast bis zur Unkenntlichkeit mit Steinen verkleidet war. Für ihr Gewicht ging sie bewundernswert weich auf.
Doch was hinter der Tür zum Vorschein kam, war noch bewundernswerter: Der große Raum sah aus wie eine Art Labor. Von mir aus gesehen war die rechte Wand völlig stählern, als ob ein Stahlkasten ohne Türen an der eigentlichen Wand stehen würde - oder ein Tank, denn auf dieser Stahlwand war anscheinend auch ein Meßgerät mit Zeiger angebracht. Die anderen Wände waren bis in eine Höhe von rund eineinhalb Metern weiß ausgefliest, wie auch der Boden. Der Rest war anscheinend nur weiß verputzt. Interessanterweise war das Licht eingeschaltet, daher konnte ich auch alle Details so gut erkennen. In der Mitte des Raumes stand noch eine Apparatur mit Sitzen auf zwei Seiten, die ich nicht identifizieren konnte. Gegenüber der Tür zum Brunnen gab es noch eine zweite Tür, und zwischen diesen Türen stand ein kleines Tischchen an der Stahlwand, genau vor der Meßanzeige. Ich stieg die paar Stufen von der Brunnentür in den Raum hinab und ging zu diesem Tischchen. Dort lag ein verstaubter Block, der Stift lag ebenso verstaubt am Boden. Erst jetzt erkannte ich, daß eigentlich das ganze Zimmer so verstaubt war, als ob ein Jahr niemand mehr diesen Raum betreten hatte. Das oberste Blatt am Block trug die Überschrift "ME-Behälter: Füllung" Sollte das gar ein Speicher für ME - also vielleicht Magische Energie - sein? Von so etwas hatte ich noch nie gehört. Na ja, andererseits war mein Erinnerungsvermögen nicht sehr groß... Trotzdem schien die Liste unter dieser Überschrift interessant zu sein: Es war eine Auflistung von einigen Namen mit "Speicherständen", die nach jedem Namen zwischen 3 und 10 % höher waren. Allerdings endete die Liste bei 37,3%, danach konnte man nur mehr den Namen "Arthur" lesen. Mein nächster Blick führte mich zur Anzeige an der Wand - beziehungsweise am Speicher. Der Zeiger war völlig am Anschlag beim Maximum gelandet. Was sollte das? Warum wurde kein Stand mehr verzeichnet? Was war hier geschehen? Während ich mir diese Fragen stellte, hörte ich Schritte hinter der Innentür und sofort flüchtete ich zur Brunnentür. Doch es war zu spät. Schon drehte sich der Schlüssel im Schloß. Ich hatte keine Chance mehr, bei der Tür hinauszukommen. Daher drehte ich mich nur mehr um, damit ich wenigstens sah, wer hier in den Raum kam. Jemand öffnete die Tür einen Spalt. Anscheinend war ich schon jetzt nicht mehr unbemerkt geblieben. Doch ich stand völlig steif vor Spannung und Furcht da und konnte mich nicht bewegen. Jetzt schwang die Tür auf. Die dort stehende Person blieb auch sofort stehen wie angewurzelt und ich konnte nur mehr das Gesicht erkennen, bevor ich - nach rechts, zur Speicherwand - umfiel. Ich konnte mich gerade noch halten. Es war SIE. Das Gesicht, das ich seit dem Aufwachen im Kopf hatte.
Als ich jedoch gegen die Wand fiel und sie berührte, geschah noch etwas eigenartiges: Ich erinnerte mich wie in einem starken Traum an das, was vorher war. Ich erlebte es praktisch noch einmal:

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© Robert Kaiser, 1997