Arthur Braun: Ein Magier?

11.: Aufklärung von Simone

Die letzte Frage hatte ich wieder laut gesprochen. Ich war aus meiner Erinnerung wieder erwacht und hatte mich aufgesetzt. Die letzte Blockade meiner Erinnerungen war jetzt endgültig gefallen, als ich den Speicher berührt hatte. Die magische Kraft war aber, wie ich jetzt wieder fühlen konnte, nach wie vor tief reduziert. Gegenüber mir stand noch immer Simone. Wie versteinert blickte sie mit bleichem Gesicht auf mich und flüsterte jetzt leise: "Arthur. ... Sorry." Ihre Knie schlotterten, sie zitterte am ganzen Körper. Und ich erwachte erst langsam aus meiner Erstarrung. "Simone. Was ist los... und was war los?" Ein niedergeschlagen klingendes Statement entfuhr mir in leisem Ton. Langsam setzte ich mich in Bewegung, kletterte mehr als ging die Stufen hinunter und kam auf sie zu. Ich fing sie auf, als ihre Muskeln auch dem Druck des schlanken, bleichen Körpers nicht mehr standhielten. Auch wenn sie jetzt erbärmlich schlecht aussah und wenn sie mir anscheinend etwas angetan hatte, ich liebte sie immer noch. Allein der Tonfall, mit dem mein Name über ihre jetzt bleichen Lippen kam, auch wenn sie nur flüsterte, konnte mich nur an meine Liebe erinnern. Ich versuchte alles, was (noch) in meiner kleinen magischen Macht stand, um ihr zu helfen, doch es funktionierte relativ schlecht. Da hatte ich eine Idee. Anscheinend war meine magische Energie jetzt im Speicher "gefangen". Als ich ihn jedoch berührt hatte, konnte meine Blockade gebrochen werden. Der Stahl hinderte mich anscheinend nur, die Energie an mich zu binden, aber unter Berührung könnte ich die Energie verwenden, überlegte ich. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, trug ich Simone ganz zum Speicher und legte meine Hand auf die Wand. Endlich fühlte ich wieder meine gewohnten Kräfte, wenn auch ungewohnt getrennt durch die Stahlwand. Ich versuchte sofort, Simone wieder "aufzupäppeln", diesmal allerdings mit sehr großem Erfolg. Bald sah sie wieder mit ruhigem Blick auf zu mir (sie lag ja am Boden), ich deutete aber nur, sie sollte ruhig bleiben, und nach ein paar Minuten sah sie wieder so aus, wie ich meine Simone im Kopf hatte.
"Entschuldigung", fing sie wieder an zu sprechen, "ich wurde auch fast gezwungen." Jetzt war mir alles unklar. "Was meinst du?" "Meine Mutter. Sie ist es. Ich habe mich immer über die Namensgleichheit gewundert, doch... es ist ja auch fast nicht zu glauben. Erst vor einem halben Jahr habe ich es gecheckt." "Du meinst, sie ist..." "Ja, Bettina Roth. Das war ihr Mädchenname. Aus der Roth-Familie, die euch schon jahrelang das Handwerk legen wollte, weil dein Vater sie nicht geheiratet hat, und die ihm dann geschworen hat, sie würde ihn und seine Familie fertigmachen. Genau die Magierin, vor der du auch mich gewarnt hast. Und die ist meine Mutter. Sie hat mich benutzt, um dich auszuschalten. Hätte ich das bloß früher bemerkt..." "Mach dir jetzt keine Vorwürfe." "Doch, mache ich mir aber. Ich habe diese Höllenmaschine mit ihrer Anleitung gebaut und, was noch schrecklicher ist, dir deine Kräfte entzogen. Jetzt können wir uns nicht einmal vernünftig wehren, denn ich bringe es trotzdem nicht übers Herz, meine eigene Mutter brutal zu bekämpfen... Übrigens, wie hast du es geschafft, meinen Schock zu lindern? Du kannst das doch gar nicht mehr, oder?" "Stimmt, ich habe die Kräfte nicht mehr. Doch als ich dich gesehen habe, bin ich gegen den Speicher gefallen. Und man sollte es zwar nicht für möglich halten, aber meine Kräfte haben mir von innen her trotzdem geholfen, und ich habe die Gedächtnisbarriere durchbrechen können. Dann habe ich halt wieder hingegriffen, um dir zu helfen." "Danke. Ich habe mir schon gedacht, du bringst mich um, wenn du dahinterkommst. Meine Mutter wollte, daß du als neuer Mensch weiterlebst - nach dem zehnjährigen Koma, selbstverständlich. Doch die Magie dürfte dich nicht ganz verlassen haben... Ich hoffe, sie weiß es noch nicht." "Ich hoffe auch. Aber wir müssen uns etwas überlegen." "Ja. Das Problem ist nur, ich weiß nicht, wie wir wieder etwas herausbekommen sollen aus dem Speicher. Ich habe es nie auch nur annähernd geschafft, als ich - im Auftrag meiner Mutter - die Kräfte auf mich übertragen sollte. Ich verstehe ja auch nicht, wie das bei dir funktionieren kann."
"Es könnte sein, daß man nur seine eigenen Kräfte wieder herausbekommen kann. Wie könnte das funktionieren?" "Warte kurz. Ich versuche, den Fluß der Kräfte umzudrehen. Uh, ist das verstaubt. Ja, ich war schon lange nicht mehr hier herunten. Ich konnte nicht mehr, ich mußte immer wieder an dich denken. Erst heute habe ich es gewagt. Ich habe fast gespürt, daß du kommst und mich brauchst, nachdem wir bei Dr. Mayer gewesen waren." "Und was hat er gesagt?" "Nicht viel. Nur, daß du aufgewacht bist, daß es dir gut geht, und daß du schon entlassen bist. So, es könnte jetzt funktionieren. Setz dich wieder auf den Stuhl, lehne den Kopf gegen das Gerät, sodaß du genau hineinschaust, und versuche, eine Verbindung da hinein zu deine Kräften herzustellen. Ich bleibe bei dir." "Okay." Ich setzte mich und befolgte ihre Anweisung. Irgendwie war es ein mulmiges Gefühl, wieder hier zu sitzen, wo das alles angefangen hatte. "Aber, bitte, sei vorsichtig. Ich möchte dich nicht wieder verlieren." Das gab mir zumindest die Sicherheit, daß sie nichts gegen mich im Schilde führte. Ich spürte, daß sie es ernst meinte und um mich besorgt war. Jetzt spürte ich auch ihre Hand auf meiner Schulter. Sie stand dicht hinter mir. "Also, dann wollen wir mal!" Ihre Hand verkrampfte sich und ihre Finger bohrten sich fast in meine Schulter, so aufgeregt und angsterfüllt war sie.
Ich dagegen versuchte, mich zu lockern und, wenn auch vorsichtig, die Verbindung aufzubauen. Zuerst spürte ich nur Leere, doch dann rührte sich etwas. Ich versuchte, die Verbindung herzustellen, aber da sträubte sich etwas. Ich probierte es noch einmal. Wieder nichts. Anscheinend traf ich immer die anderen Energiebündel. Ein dritter Versuch. Aller guten Dinge sind drei. Irgend etwas öffnete sich, langsam und vorsichtig. Meine Hände fingen an zu zittern, der Schweiß brach aus allen Poren. Es schien zu funktionieren. Meine Konzentration stieg ins unermeßliche. Ich mußte es schaffen. Nachdem ihre linke Hand "in meiner Schulter vergraben" war, spürte ich ihre rechte zusätzlich in meiner rechten. Die Liebe zu ihr steigerte meine Anstrengung. Und die Öffnung weitete sich. Jetzt versuchte ich, den Kräftefluß anzuregen. Langsam setzte sich etwas in Gang. Ich fühlte, wie sich meine "verlorenen" Kräfte sehnten, zurückzukommen. Und so konnte ich die Erfüllung dieser Sehnsucht bald spüren. Mir wurde warm. Ich versuchte, trotz dieser Wärme, trotz der Schweißausbrüche und trotz des Zitterns so ruhig wie irgendwie möglich zu bleiben, um den Fluß nicht zu stören. Es ging immer besser. Ein erlösendes "Ja!" kam über meine Lippen. Kurz darauf fügte ich hinzu: "Ich liebe dich." "Ich dich auch." Es klang wie wenn es von der Ferne käme und doch war es nah. So nah, daß ich den warmen Atem im Genick spüren konnte. Und meine Kräfte flossen. Es war kurz vor dem Ende, als ihr Kopf sanft auf meiner rechten Schulter landete. Der Kräftefluß verlangsamte wieder, die Öffnung verschwand im gleichen Maß. Es war, als ob ich eine Art Gasblase eingesaugt hätte - nur im geistigen Bereich. Ich fühlte alle Kräfte in mir, die Öffnung war verschwunden. Es konnte ja keinen Zugang zu einem Feld geben, das nicht mehr existierte. Es war geschafft. Für ein paar Sekunden fühlte ich mich schwach und brach fast zusammen, doch meine Kräfte bauten mich wieder auf. Ich stand nur mehr auf und fiel Simone um den Hals. "Wir haben es geschafft. Danke." Von der unsichtbaren Kraft der Liebe geführt, näherten wir uns zu einem leidenschaftlichen Kuß und versanken völlig in unseren Gefühlen.

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© Robert Kaiser, 1997