Arthur Braun II: Welten

1.: E UNIVERSIS UNUM

Das mußte es sein. Ja, es sah ein wenig anders aus, als ich es in Erinnerung hatte, aber das war es. Man merkte deutlich, daß schon mehr als ein halbes Jahr niemand mehr hier gewesen war. Ich selbst hatte es vor mehr als einem Jahr das letzte Mal gesehen, da ich ja die ganze Zeit im Koma gelegen war. Simone würde erst später herkommen, hatte sie gesagt. Also ging ich die Stufen hinauf, den Schlüssel fand ich sofort und konnte daher das Ferienhaus meines Vaters problemlos betreten.
Hier würde ich sein Erbe finden, hatte er gemeint, als er mir wieder einmal erschienen war. Aufgrund seiner spärlichen Worte hatten seine Aussagen schon immer rätselhaften Charakter gehabt. Ich war allerdings ja doch sein Sohn und wußte, daß er sicherlich nicht eine Schatzkiste mit Gold oder sonst ein Vermögen gemeint hatte. Außerdem war da noch dieser Zusatz: "Gehe vorsichtig damit um, sonst verlierst du den Boden!" Was hatte er damit sagen wollen? Was hatte einer der weltgrößten Magier seinem Sohn hinterlassen? Wollte er mich in ein Berufsgeheimnis einweihen? Warum sollte ich das gerade in dem kleinen Ferienhaus hier in Grünburg finden? Ich erinnerte mich, daß mein Vater einmal geäußert hatte, daß hier in der Umgebung des Steyr-Flusses nicht nur Wasser gut fließe. Was er damit aussagen wollte, war mir damals wie heute allerdings völlig unklar.
Und so stand ich hier im Ferienhaus, wo sich der Staub schon überall breitgemacht hatte. Alles war noch fast genau so wie ein Jahr zuvor: Die Feuerstelle wirkte zwar kälter und leerer als gewöhnlich, es brannte ja auch kein Feuer, und sonst überall hatte sich ein deutlich sichtbarer, grauer Staubfilm aufgeschichtet. Ich überlegte, ob ich an diesem Julisonntag ein Feuer entzünden sollte, um die Romantik zu steigern, während ich die Bücher am Tisch zusammenlegte. Ich entschloß mich, damit auf Simone zu warten. Dann brachte ich die Bücher zum Regal und stellte sie dort ab. Als ich mich schon umdrehen wollte, fiel mir ein besonderes Buch im Regal auf. Das mußte ein "Buch der Magie" sein, wahrscheinlich jenes meines Vaters...
Plötzlich läutete das Telefon. Wer wollte mich hier erreichen? Ich tippte sofort auf Simone und - ich hatte recht! "Hallo, Arthur!" Diese süße Stimme! Sie war zwar die Tochter von Bettina, die mit Vater immer auf Kriegsfuß gestanden war, seit er meine Mutter geheiratet hatte, aber Simone war das Beste, das mir je passieren hatte können. So tiefe Liebe hatte ich vorher nie verspürt. Bei diesem Gedanken spürte ich die Gänsehaut, die solche Gefühle bei mir entstehen ließen...
"Hallo, meine große Liebe." Andere Worte fielen mir in diesem Augenblick nicht ein. "Ich weiß, was du sagen willst. Das spüre ich sogar durch's Telefon - Mir geht's genau so. Leider ist der Grund, warum ich anrufe, nicht ganz so gut." "Was gibt's?" Ich war plötzlich aus dem 7. Himmel auf die Erde, in die Realität zurückgerutscht. "Es ist nicht so schlimm Ich muß nur meinem Vater bei der Hausarbeit helfen. Du weißt ja, das hat bis letzte Woche noch Mutter erledigt."
Ja, ich kannte die Situation genau. War es doch Simones Mutter gewesen, die mein Leben vor einem Jahr völlig verändern wollte. Und genauso war es Bettina gewesen, die in "höhere" Gefilde geflüchtet war, nachdem ich sie mit wiedergewonnenen Kräften vor ein paar Tagen gestellt hatte und sie erkannte, daß sie schlußendlich verlieren würde, weil Simone - ihre eigene Tochter - mich schützte.
"Ich verstehe. Deshalb brauchst du mich aber nicht so erschrecken. Wann kommst du?" "Ich denke, ich werde hier noch ungefähr eine Stunde Arbeit haben. Bis um 8 müßte ich es schon schaffen." "Okay. Ich erwarte dich in Liebe." "Du alter Poet!" "Naja, so alt bin ich auch wieder nicht." "Okay, okay, du hast gewonnen. Bis später!" "Bis dann, Simone!"
Meine Freundin. Gott mußte mich lieben, sonst hätte er mir nie das Geschenk einer solchen Partnerin gemacht... Noch in Gefühlen verstrickt, kehrte ich zum Bücherregal zurück. Vorsichtig griff ich zum ominösen Buch, das mir vorher schon aufgefallen war. Ich konnte ja nicht wissen, ob er es nicht etwa mit einem magischen Schutz umgeben hatte. Doch ich konnte es problemlos herausnehmen. Es war zweifellos wirklich das "Buch der Magie" meines Vaters, konnte ich doch "Robert Braun" unter dem Buchtitel gerade noch entziffern. Ich schlug es auf und blätterte langsam durch die Seiten. Das Buch war für mich ja eigentlich bekannt, da ich das selbe ohnehin selbst besaß. Doch ich suchte etwas, irgend etwas Besonderes. Hie und da fand ich zwar kleine Notizen zu Details, die mir mein Vater aber auch schon selbst großteils erklärt hatte, trotzdem spürte ich, daß da noch etwas sein mußte. Bis zur letzten normalen Buchseite fiel mir jedoch nichts auf.
Interessanter wurde allerdings der Notizteil. Dort fand ich einige Informationen, die mir noch unbekannt gewesen waren. Trotzdem wußte ich, daß noch mehr in diesem Buch lauerte. Als ich eine nächste Seite aufschlug, kam ich mir plötzlich wie geblendet vor. Die Stimme meines Vaters sagte wie aus dem Nichts: "Bewahre diese Informationen sorgfältig auf und verwende sie vorsichtig!"
Meine Augen erholten sich langsam vom blendenden Lichtblitz und entdeckten auf den ersten Blick eine Grafik, die ungefähr folgendermaßen aussah:

Magisches Dreieck

Über dieser Grafik las ich den lateinischen Spruch "E UNIVERSIS UNUM" - "Aus allen eines", darunter die Erklärung: "In der Macht des Operators werden alle Welten vereint, er steht im Mittelpunkt und kann sich temporär, lokal und modal transportieren." Notiz meines Vaters dazu: "Achtung! Geistesgegenwärtig die Kontrolle über Ort, Zeit und Ebene behalten!" Nichtsahnend stieß ich zu mir selbst die Worte aus: "Das klingt ja wie bei Star Trek!"

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© Robert Kaiser, 2001