Arthur Braun II: Welten

5.: Ein kleiner Schritt für zwei Menschen...

Ich war wieder in meiner Vergangenheit angelangt. Mann, hoffentlich hatte die Briefaktion Erfolg gehabt. Ich hatte schon leichte Schweißausbrüche, wenn ich daran dachte. Denn der Schuß könnte genau in die verkehrte Richtung losgehen...
Wir waren ja schon in der Vor- und Volksschule extrem gute Freunde. Wir trafen und mehrmals wöchentlich, manchmal bei ihr, manchmal bei mir zu Hause. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie wir damals in ihrem Zimmer gesessen waren und über ihre Katze gesprochen hatten. Ich wußte nicht, warum mir gerade dieser Moment in den Gedanken geblieben war, aber ich war froh, zumindest diesen einen nicht vergessen zu haben.
Doch ein Tag, soviel ich mich erinnern konnte, war es der zweite Wandertag in der dritten Klasse Volksschule, brachte eine dramatische Wende: Ich wollte ihr ein paar selbstgepflückte Alpenblumen schenken, doch sie ignorierte mich plötzlich. Sie hatte sich mit "dem Neuen" in unserer Klasse angefreundet und war mit diesem so intensiv beschäftigt, daß sie mich einfach links liegen ließ. Dadurch, daß sie unsere "unzertrennliche" Freundschaft so empfindlich verletzt hatte, bäumte sich in mir trotz des "zarten Knabenalters" von 9 Jahren ein nie gekanntes Gefühl der Einsamkeit auf. Ich mußte meinen Kopf unter der Vorgabe, etwas zu suchen, tief in meinen Rucksack beugen, um meine Tränen zu verbergen. Wenn ich mir diese Situation jetzt vorstellte, war sie mir eher peinlich: Es mußte grauenhaft ausgesehen haben, als ich mir den Rucksack fast schon über den Kopf stülpte!
Die Wunden, die dieses Erlebnis aufgerissen hatte, sollten lange nicht verheilen. Sie versuchte bei jeder Möglichkeit, mich lächerlich zu machen, was ihr auch sehr oft gelang, und ich versuchte, mich über zahlreiche Gegenangriffe zu wehren ("Motto: Angriff ist die beste Verteidigung") - was aber oft scheiterte. Ich war ihr eigentlich nicht unterlegen, aber ich konnte nicht vergessen, wie sehr ich eigentlich doch an ihr hing. Nach einigen Jahren Streit wurden wir aber doch alt genug, um diesen langsam, aber sicher beizulegen. Das hieß natürlich noch lange nicht, daß wir uns wieder gut verstanden hätten oder gar wieder eine echte Freundschaft geschlossen hätten. Wir lernten nur, voneinander Abstand zu halten und Angriffe nicht zu erwidern, ja nicht einmal mehr selbst solche zu starten. Es herrschte, um bei den militärischen Ausdrucksweisen zu bleiben, ein Waffenstillstand nach einem jahrelangen Krieg, der langsam sogar einem dauerhaften Frieden wich.
Erst mit der Zeit begannen wir dann auch wieder miteinander zu sprechen. Zuerst betraf die neu geschaffene Kommunikation nur die wichtigsten Bereiche, doch nach und nach wurde unsere Gesprächsbasis wieder besser. Auch wenn diese Beschreibung sehr kurz und bündig klingt, dieser Vorgang dauerte all die Jahre von unserer Volksschulzeit bis jetzt, ein Jahr vor dem Abschluß der "Magierschule".
Erst vor ein paar Wochen beschlossen wir, miteinander am Abend fortzugehen. Und dieser Abend war, so hoffte ich, einer der bedeutendsten Punkte in unserem Leben. Wir gingen in ein kleines, aber feines Steyrer Lokal und brachen endgültig das Eis: Wir sprachen über dies und das, lachten über unseren "Krieg" und konnten auch über sehr persönliche Themen wieder locker reden. Ich hatte endlich die "alte" Freundin wieder, die Simone in damaligen Volksschulzeiten gewesen war. Und es war so angenehm und schön, sich mit ihr so locker zu unterhalten, daß mir der Gedanke, mit dieser Frau noch bedeutend mehr Zeit meines Lebens zu verbringen, wieder sehr verlockend schien. Jedenfalls war ich der Meinung, daß ich "meine Fühler ausstrecken" sollte, um eine Vorstellung ihrer Gefühle zu bekommen. Konnte sie sich vorstellen, ihr Leben - oder zumindest einen Teil davon) mit mir zu verbringen? Hatte sie Gefühle für mich? Könnte sie sich in mich verlieben? Ich konnte mir dies alles jedenfalls gegenüber ihr von meiner Seite aus sehr wohl vorstellen, nach diesem Abend. Und der nächste sollte bald folgen, das hatten wir vor dem Abschied noch ausgemacht.
Ein Wochenende später: Gleiches Lokal, gleiche Begebenheiten, gleiche Gefühle, und wir kamen uns immer näher. Die Liebe, jene unaufhaltsame Kraft, entwickelte sich in unseren Herzen, unseren Seelen. Ich spürte, daß es ihr ähnlich ergehen mußte wie mir. Doch außer dem sanften, schmeichelnden Unterton in den Stimmen und dem romantischen, eindringlichen Ausdruck in den Blicken und, tja, vielleicht einer gesteigerten Hormonproduktion verlief der Abend im Lokal ganz normal.
Sie hatte mich an diesem Abend von zu Hause mit dem Auto abgeholt und daher brachte sie mich auch wieder zurück. Jetzt war es da, dieses Gefühl: Wir wollten gar nicht Abschied voneinander nehmen. Auf der Straße vor meinem Zuhause stellte sie den Motor ab. Wir unterhielten uns noch im stehende Auto, und diese Unterhaltung dauerte einige Zeit, doch irgendwann mußte dann der Abschied kommen - und der wurde zu einem denkwürdigen Augenblick: Langsam, wie in den gaz bekannten Filmen, kamen wir uns näher und näher, bis sich unsere Lippen mit Scheu, aber voll Verlangen, berührten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger passierte an diesem Abend, in diesem Augenblick, bevor ich aus dem Auto ausstieg und ihr nachsah, als sie wegfuhr.
Eine kurze Berührung. Kein großmächtiger, langgezogener Kuß, wie es die Filmindustrie gern zeigt. Nein. Kurz, scheu, ganz sanft hatten sich unsere Lippen für Sekunden berührt. Und doch hatte es sich wie eine kleine Ewigkeit angefühlt. Ein kleiner Schritt für zwei Menschen, aber ein großer Schritt für unsere zukünftige Beziehung. Es war nicht "nur" eine Berührung unserer Lippen, ein Küßchen, es war eine Berührung unserer Seelen geworden. Jetzt wußte ich mit noch nie dagewesener Klarheit, was ich schon seit langem gehofft hatte: Es gab diese Gefühle zwischen uns, die eine Anziehung wie bei zwei Magneten verursachten. Vielleicht war es sogar echte Liebe.
Und jetzt stand ich da, wieder eine Woche später, und wartete auf sie. Hoffentlich hatten die Briefe das Erhoffte bewirkt. In freudiger Erwartung und trotzdem nervös stand ich da. Die Spannung stieg bis zum nervenzerfetzenden Höhepunkt.
Da kam sie. Ihr Auto parkte sie neben meinem ein - ein gutes Omen? Ein freundlicher Gruß, ein "Willkommensküßchen", ein paar erleichternde Worte, wir gingen zu unserem Stammlokal. Auch sie wirkte sichtlich froh, daß die Woche vorbei und unser nächster gemeinsamer Abend gekommen war. Das Eis war durch die Begebenheit letzte Woche jedenfalls endgültig gebrochen. Beim Gespräch rückten wir immer näher zusammen, ich legt den Arm um ihre Schultern, sie lehnte ihren Kopf an mich und schwärmte über die 3 Briefe, die sie an 3 Tagen der letzten Woche erhalten hatte. Den Absender hatte sie schnell erraten...
Dieses Gefühl war jetzt schon unbeschreiblich. Es war einer jener Augenblicke, die in sich selbst zu einer halben Ewigkeit, zu einem eigenen Universum werden. Es war jener Moment, den man für sein ganzes Leben festhalten möchte... Was würde ich wohl in ein paar Jahren über diesen Abend denken?

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© Robert Kaiser, 2001