Arthur Braun II: Welten

8.: Dependence Day (Das große Kribbeln)

Ich wachte auf, als das Kribbeln in mir zu stark wurde, um noch zu schlafen. Ich drehte den Kopf zur Seite, blickte auf die andere Betthälfte, obwohl ich wußte, daß sie leer war. Ja, ungewohnt war das schon. Aber sie wollte sich ja an die alten Bräuche halten und war diese Nacht bei ihrem Vater geblieben - und ich fand das eigentlich auch richtig so. Trotzdem war es sehr ungewohnt, zu wissen, daß sie in Steyr war, aber nicht hier schlief bzw. geschlafen hatte.
Da schoß mir der nächste Gedanke durch den Kopf und ich riß meinen Kopf um 180 Grad herum und starrte auf den Wecker. Während sich die Erleichterung breit machen wollte, daß ich eine Viertelstunde später sowieso geweckt worden wäre, wurde diese schon wieder von diesem Kribbeln abgewürgt, als ich den Tagesablauf nochmals geistig durchcheckte, wahrscheinlich zum 328. Mal. "Mann, wird schon alles gut gehen", sagte ich zu mir selbst, atmete tief durch und versuchte, mich zu beruhigen. Daß ich einmal so nervös werden könnte, hätte ich mir nie gedacht... Augen schließen, drei Mal durchatmen, "Es wird schon nichts schiefgehen. Das soll unser schönster Tag werden. Der glücklichste unseres Lebens." Mann, war es schwierig für mich, Beruhigung zu finden. Das war noch ungewohnter, als alleine im Bett zu liegen.
Nachdem ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, richtete ich mich auf, doch das Kribbeln war zurück, als ich den Anzug am Schrank hängen sah. Wir hatten diesen Tag schon lange im Vorhinein geplant, aber trotzdem hatte ich nicht voll realisiert, daß er jetzt da war. Ich konnte es irgendwie nicht ganz glauben, obwohl ich genau wußte, daß es so war. Nach meinem Herumstarren war es anscheinend sogar meinem Wecker zu viel geworden, denn er fing wie wild zu piepsen an. Ich schaltete ihn aus und stieg aus dem Bett, als mich wieder ein kalter Schauer überfiel. Das Kribbeln durchlief, so schien es, meinen ganzen Körper. Ja, ich brauchte wirklich eine wohlig warme Dusche, um mich aufzubauen. Außerdem mußte ich mir den kalten Nervositätsschweiß vom Körper waschen (obwohl ich überzeugt war, daß dieser bald wieder durch frischen "Duft" ersetzt werden würde). Also packte ich meinen Anzug und marschierte ins Bad. Bevor ich in die Duschkabine steigen konnte, durchfuhr mich der nächste kalte Schauer, aber nur Sekunden später kam die Erleichterung unterm fließenden warmen Wasser. So wurde die Pflicht zur Kür, denn das Niederprasseln dieser Wasserstrahlen brachte Erholung pur. Danach konnte ich halbwegs erholt zum Rasieren schreiten, was ein äußerst angenehmer Nebeneffekt war.
Als ich einige Minuten später in Anzughose und Hemd den Raum verließ, begann allerdings das nun schon deutlich bekannte Gefühl wieder stärker hochzusteigen. Ich stellte den vom Vortag fertigen Kaffe in die Mikrowelle und steckte 2 Toastscheiben in den Toaster. Mehr als ein paar Bissen würde ich sowieso nicht essen können, dachte ich. "Hoffentlich läuft bei Simone alles glatt", dachte ich. Einen Augenblick später hatte ich schon das Telefon in der Hand und sah mich die Nummer von Simone's Vater wählen.
"Neuhauser?" "Ja, hallo, hier ist Arthur. Wie läuft's bei euch?" "Alles okay. Die konnte ja gar nicht verschlafen, da war sie viel zu nervös." "Das kenne ich von irgendwo... Sonst paßt auch alles?" "Ja, mach die keine Sorgen, es wird alles gutgehen." "Das hoffe ich." "Und wie geht's dir?" "Ich stehe irgendwie komplett unter Strom, so ein gewisses Kribbeln durchfährt mich ständig, aber sonst ist alles in Butter." "Naja, wird schon noch werden. Sonst noch was?" "Nein, wir sehen uns ja eh dann." "OK, bis bis später also." "Tschüs."
Mittlerweile waren Toast und Kaffee fertig, als ich ein ankommendes Auto hörte. Ich warf eine Blick aus dem Fenster. Ja, er war es, das war das Braut-(paar)-Fahrzeug. Ich ließ ihn herein und aß mein Frühstück. Als ich meine Freund Karl so im Anzug mit dem Hochzeitsanstecker in der Tür stehen sah, stieg das Kribbeln abermals hoch und durchfuhr meine Glieder. Es ging hier wirklich, jetzt und heute, um meine Hochzeit. Und um Simone Hochzeit vor allem. Nach allen Erlebnissen, die wir in der Vergangenheit gehabt hatten, nach allen unseren Höhen und Tiefen würden wir heute den Bund für's Leben eingehen. Ich konnte es, trotz all dieser Monate der Planung und Vorbereitung, noch immer nicht fassen. Es war fast zu schön, um wahr zu sein, eigentlich irgendwie unwirklich... Ich fühlte mich kurz, als würde ich gar nicht hierher gehören, als müßte dies eigentlich noch Zukunftsmusik sein...
"Arthur", riß mich Karl aus den Gedanken, "können wir fahren?" "Ja, gern", meinte ich, stellte das Häferl weg und holte mein Sakko. In so einem Anzug hatte ich mich schon immer ganz anders gefühlt als im "normalen" Gewand mit Jean und so. Irgendwie kam es mir dabei immer vor, als würde ich in (m)eine eigene altgediente, ehrenhafte, noch viel mehr Magier-mäßige, und jedenfalls edle Persönlichkeit schlüpfen. Ja, und besonders im Hochzeitsanzug fühlte ich mich edel. Vielleicht fühlte ich mich ja unter anderem auch deswegen so eigenartig.
Ich kam zur Eingangstür, bei der mich Karl schon mit den Worten "Auf zum Dependence Day!" erwartete. "Dependence Day?" "Ja, die Ehe ist ja doch auch eine gewisse Abhängigkeit..." "Haha, du hast leicht lachen. Aber warte nur, deine Hochzeit kommt auch bestimmt." "Naja, man wird sehen." "Dort bist dann wenigstens du nervös und nicht ich, heute hab ich das große Kribbeln... OK, zugesperrt hab ich doch jetzt, oder?" "Ja, ich hab dir ja zugesehen. Dann fahren wir..."
Ich hatte im Auto hinten Platz genommen. Gerade wollte ich versuchen, dem Kribbeln wieder irgendwie beizukommen, als mein Vater plötzlich neben mir saß. Er mußte ja immer völlig unangemeldet erscheinen, wenn er was zu sagen hatte! "Tag, mein Sohn. Wie fühlst du dich?" "Das kannst du dir wohl vorstellen..." Doch - warte mal! - MEIN VATER? War ich nicht gerade in seiner Hütte gewesen? Die hatte doch leergestanden, weil sich meine Eltern ins Metraversum abgesetzt hatten.... Und das letzt Mal hatte ich ihn doch bei der Geschichte mit Bettina gesehen... Mein Gott, BETTINA! Simone's Mutter, die mehr Hexe als Magierin war! Und unsere letzte Begegnung... Das war vielleicht ein Kampf gewesen...

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© Robert Kaiser, 2001